Herausforderungen und Lösungsansätze aus einer theoretischen Perspektive und anhand von Praxisbeispielen.
Das Gesundheitssystem verfolgt zwei Ziele: Gewünscht ist die qualitativ beste Versorgung zu einem allgemein verträglichen Preis. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld. Zudem ist das Schweizer Gesundheitssystem geprägt von einem Mix zwischen staatlicher Regulierung und einer relativ liberalen Ausprägung der Gesundheitsversorgung («regulierter Wettbewerb»). Die Abwicklung wird schliesslich auf alle drei Staatsebenen (national, kantonal, kommunal) maximal verteilt. Die Akteure sind sich einig, dass eine integrierte Gesundheitsversorgung eine höhere Qualität bietet. Bei der Frage, ob die Vernetzung über den gesamten Patientenpfad auch direkt zu Kosteneinsparungen führt, gibt es unterschiedliche Ansichten. Am Netzwerk-Apéro des Luzerner Forums haben Experten der Hochschule Luzern diese Fragen zusammen mit dem Publikum erörtert. Sie sind überzeugt, dass eine integrierte Versorgung in unserem System des regulierten Wettbewerbs möglich ist.
Zur Begrüssung im Auditorium der Hochschule Luzern – Wirtschaft erzählte Nationalrätin Ida Glanzmann-Hunkeler, Präsidentin des Luzerner Forums, eine persönliche Geschichte zur Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen. Dabei kam zum Ausdruck, dass in einem Praxisnetzwerk Ärztinnen und Ärzte oft wechseln und daher wenig persönlichen Bezug zu Patientinnen und Patienten haben. Das werde dann zum Problem, wenn die sprachliche Verständigung nicht mehr gewährleistet ist. «Wichtig ist, dass Ärztinnen und Ärzte auch im Netzwerk ihre Patientinnen und Patienten verstehen», hält sie fest. «Sie müssen also zwingend eine Landessprache sprechen.» Mit dieser kurzen Einführung stellt Ida Glanzmann-Hunkeler klar, dass die Schaffung integrierter Versorgungsnetze nicht automatisch zu mehr Qualität führe.
Zwei Thesen zum mehrdimensionalen Wettbewerb
Prof. Jonas Willisegger, Leiter des Competence Centers Public und Nonprofit, ging auf das Spannungsfeld von integrierter Gesundheitsversorgung im System des regulierten Wettbewerbs ein. Eingangs zeigte er anhand marktheoretischer Ausführungen die Bedingungen für effiziente Märkte auf. 1. Privateigentum an Gütern und Dienstleistungen, 2. Prinzip der vollständigen Konkurrenz, 3. transparente Information über Marktbedingungen, 4. Preis als alleiniges Entscheidungskriterium für den Kauf eines gleichartigen Gutes und 5. die Rationalität der Marktteilnehmenden. Diese Prinzipien der Markteffizienz sind im Gesundheitswesen oft, zumindest teilweise, ausser Kraft gesetzt. Das Wettbewerbsmodell im Schweizer Gesundheitswesen kann unterschieden werden in einen Preiswettbewerb auf Seiten der Krankenversicherer und einen Qualitätswettbewerb auf Seiten der Leistungserbringer. Diese beiden Dimensionen sind verknüpft über die Tarifverhandlungen. Um eine wissenschaftliche Grundlage für die die nachfolgenden Referate zu liefern, formulierte Jonas Willisegger zum Abschluss seines Referates die folgenden zwei Thesen:
Wo bleibt der Trend?
Einen Überblick zu Herausforderungen und Lösungsansätzen für eine besser integrierte Gesundheitsversorgung lieferte Dr. Nico van der Heiden in seinem Referat. Er ist stellvertretender Leiter des CC Public und Nonprofit Management an der Hochschule Luzern – Wirtschaft und forscht unter anderem zu den Themen Lebensqualität und Versorgungseffizienz. Gemäss Nico van der Heiden zeichnen sich integrierte Versorgungsmodelle durch die strukturierte und verbindliche Zusammenarbeit verschiedener Leistungserbringer aus. Als Beispiele nannte er das «Healthy Emmental», «Gesundes Laufental» und das «Gesundheitszentrum Unterengadin». Doch ein schweizweiter positiver Trend hin zu einer flächendeckend vernetzten Gesundheitsversorgung sei nicht erkennbar. Die Herausforderungen sind vielfältig. So biete der Markt aktuell wenig Anreize für eine stärkere Integration, hält Nico van der Heiden fest. Akteuere handeln rational, Einzelleistungstarife bieten wenig Anreiz zur Vernetzung und es herrscht grosse Kundenzufriedenheit mit dem Status Quo. Auch der Staat sei bisher noch zu zurückhaltend. Zwar würden Förderprogramme unterstützt und Broschüren produziert. Allerdings werde zu selten tatsächlich investiert, beispielsweise in Infrastruktur. Und das regulatorische Durchgreifen vermisst Nico van der Heiden sogar gänzlich. Schuld an der zu zögerlichen Integration der Gesundheitsversorgung ist also weder alleine der Markt noch alleine der Staat. So müssten auch beiden Seiten ihren Beitrag leisten, damit aus einzelnen Aktivitäten tatsächlich ein Trend werden könne. Der Markt könnte Fallpauschalen im ambulanten Bereich stärken, Tarifpositionen für die Koordination schaffen und den Qualitätswettbewerb neu beleben. Aber auch der Staat ist gefordert. Das Durchsetzen von regulatorischen Vorgaben, Investitionen in Infrastruktur sowie die interprofessionelle Aus- und Weiterbildung wären mögliche Massnahmen. Abschliessend bezog sich Nico van der Heiden auf die eingangs von Jonas Willisegger aufgestellte Thesen. So stehe das integrierte Versorgungsmodell tatsächlich nicht im Widerspruch mit dem Konzept des regulierten Wettbewerbs. Allerdings reiche die alleinige staatliche Regulierung auch nicht aus, um die Versorgung besser zu integrieren. Nico van der Heiden fasste folgendermassen zusammen: «Für eine bessere Integration der regulierten Gesundheitsversorgung müssen unbedingt sowohl staatliche wie auch private Akteure einen Beitrag leisten.»
Verbesserte Krebsversorgung dank Integration
Als dritter Referent erläuterte Prof. Oliver Kessler, Co-Leiter des Forschungs- und Beratungsprogramms Öffentliches Gesundheitsmanagement an der HSLU, die Resultate einer Studie über die integrierte Krebsversorgung in der der Zentralschweiz und damit fundierte Aussagen über die Praxis. Er nahm zu Beginn ebenfalls Bezug auf die zwei Thesen. Erstens, ja, integrierte Versorgung bringe Qualitäts- und Kostenvorteile. Und zweitens brauche die Gesundheitsvorsorge immer staatliche Regulierung. Insbesondere um Qualität und Patientensicherheit sicherzustellen. Diese Aussagen lassen sich aus der HSLU-Studie zur Qualität der Krebsversorgung in der Zentralschweiz ableiten. Krebserkrankungen sind im Gesundheitswesen einer der stärksten Kostentreiber. Entsprechend wichtig ist die gleichzeitige Optimierung von Leistungs- und Kostenseite. Auch in der Zentralschweiz spielen Krebserkrankungen im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle. So ist jeder vierte Todesfall in der Zentralschweiz krebsbedingt. Dank wissenschaftlichem Fortschritt hat sich die Situation verbessert. So ist seit 1990 die Krebssterblichkeit um 28% gesunken. Auch die integrierte Krebsversorgung trug laut Oliver Kessler wesentlich zu dieser Verbesserung bei. So werden die wichtigsten Faktoren für anhaltenden Lebensqualität nach einer Krebsdiagnose bei der Integration berücksichtigt. Patient:innen sollen eine positive Lebenseinstellung bewahren können, Angehörige sollen unterstützt werden und die empathische und persönliche Fachbetreuung und Begleitung ist weiter zu stärken. Doch welche Lösungsansätze lieferte die HSLU-Studie hinsichtlich einer weiteren Verbesserung der Integration? Hier nannte Oliver Kessler den Ansatz der «Value-based Healthcare». Wobei die Wertorientierung noch verstärkter auf die Prävention zu legen sein wird. Oliver Kessler beendete seinen Vortrag mit folgender Aussage: «Die Krebsversorgung in der Zentralschweiz ist sehr stark fragmentiert. Gefordert ist eine koordinierte, integrierte, ganzheitliche, patient:innenzentrierte Gesundheitsversorgung.»
Fazit mit viel Konjunktiv
Wie es ginge, wüssten also alle Akteure. Die abschliessende Diskussion, moderiert von Hannes Blatter, zeigte klar, dass über den Wert einer integrierten Gesundheitsversorgung Einigkeit besteht. Eine Herausforderung stellt die Frage der Vergütung der Integrations- und Koordinationsleistung dar. Diese wird bis heute nicht angemessen entschädigt. Es braucht bessere finanzielle Anreize für die Akteure. Und auch Qualitätsstandards sind entscheidend. Optimierungspotenzial bezüglich Integration gibt es also auf der Preis- wie auf der Qualitätsseite des Marktes. Als Fazit steht denn auch im Raum, dass es eine integrierte Gesundheitsvorsorge nicht im Widerspruch zum Modell des regulierten Wettbewerbs steht. Für die Etablierung einer flächendecken integrierten Versorgung braucht es aber Entwicklung auf Markt- und Regulationsseite. Dies kann nicht einseitig staatlich «verordnet» werden. Oder wie es Nationalrätin Ida Glanzmann-Hunkeler (Präsidentin des Luzerner Forums) abschliessend konstatierte: «Die vollständig staatlich regulierte Versorgung wird es garantiert nicht geben. Einem solchen Modell wird die Schweizer Stimmbevölkerung niemals zustimmen.» Es bleibt also spannend, wie sich die Gesundheitsversorgung im diskutierten Spannungsfeld weiter entwickeln wird.
Der angeregte Austausch wurde beim anschliessenden Apéro riche in der HSLU-Oase bei ungezwungenem Networking vertieft. Ein besonderer Dank gilt der Hochschule Luzern – Wirtschaft für die Gastfreundschaft und den rund 50 Besucherinnen und Besuchern für das Interesse an der Veranstaltung.
Dieser Netzwerk-Apéro war eine exklusive Veranstaltung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Träger- und Partnerorganisationen des Luzerner Forums für Sozialversicherungen und Soziale Sicherheit.
Hier finden Sie Eindrücke dieser Veranstaltung.
Hier finden Sie das Video der Veranstaltung.
Mittwoch, 23. November 2022
17.00 Uhr Türöffnung
17.30 Uhr Beginn der Veranstaltung
17.30 Uhr
Begrüssung und Eröffnung durch Nationalrätin Ida Glanzmann-Hunkeler, Präsidentin Luzerner Forum
17.35 Uhr
Steht der «regulierte Wettbewerb» im Widerspruch zur integrierten Gesundheitsversorgung?
Prof. Jonas Willisegger, Leiter CC Public and Nonprofit Management, Hochschule Luzern - Wirtschaft
17.45 Uhr
Regionale Versorgungsmodelle – Herausforderungen und Lösungsansätze für eine besser integrierte Gesundheitsversorgung.
Dr. Nico van der Heiden, Stv. Leiter CC Public and Nonprofit Management, Hochschule Luzern - Wirtschaft
17.55 Uhr
Integrierte Krebsversorgung: Patient:innen und Angehörige ins Zentrum stellen.
Prof. Oliver Kessler, Co-Leiter Forschungsschwerpunkt Öffentliches Gesundheitsmanagement, Hochschule Luzern - Wirtschaft
18.05 Uhr
Fazit und Thesen zu einer integrierten Versorgung trotz reguliertem Wettbewerb
Hochschule Luzern – Wirtschaft
Auditorium
Zentralstrasse 9
6002 Luzern
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